01. März 2018

Für und Wider der Bürgerversicherung

Ein Aufsatz unseres Ehrenmitgliedes Helmut Tempel
Als Bürgerversicherung oder Volksversicherung bezeichnet man in Deutschland ein solidarisches Sozialversicherungssystem mit dem Kennzeichen, dass ausnahmslos alle Bürger und unter Einbeziehung aller Einkunftsarten Beiträge in die gesetzliche Krankenversicherung leisten und gleichermaßen alle Bürger im Versicherungsfall daraus gleiche Leistungen in Anspruch nehmen können.

Die Bürgerversicherung wäre somit die Auflösung des dualen Systems zwischen gesetzlicher und privater Krankenversicherung im Leistungsbereich der Grundversorgung. Medizinische Sonderleistungen über die Grundversorgung hinaus sollen weiterhin durch eine private Zusatzversicherung möglich sein.

Verschiedene politische Parteien favorisieren die Umgestaltung der bestehenden Krankenversicherungssysteme in eine Bürgerversicherung. Die Bürgerversicherung ist Thema der Sondierungsgespräche für eine eventuelle „Große Koalition.“

Die Befürworter der Bürgerversicherung versprechen sich höhere Einnahmen für die gesetzliche Krankenversicherung, um ein höheres Leistungsniveau der Grundversorgung zu ermöglichen, des Weiteren mehr soziale Gerechtigkeit sowohl in der solidarischen Beitragsfinanzierung als auch der Qualität und Nutzung der Versicherungsleistungen, außer- dem eine höhere Effizienz und damit Kostenersparnis, welche der Leistungsfinanzierung oder dem Leistungsniveau zugute käme, und darüber hinaus Abbau von Verzerrungen im Wettbewerb von Ärzten gesetzlicher Kassen mit Privatkassenärzten. Entsprechend einer Studie der Bertelsmann-Stiftung könnte der Staat in den nächsten 15 Jahren rund 60 Milliarden Euro einsparen, wenn er die Beamten-Beihilfe zur privaten Krankenversicherung abschaffen würde.
Denn Bund und Länder müssten dafür immer tiefer in die Tasche greifen. Da der Staat über die Beihilfe die Hälfte – bei Pensionären 70 Prozent – der Krankheitskosten übernimmt, hätten sie oft günstigere Prämien bei der privaten Versicherung. Auch deswegen seien rund 85 Prozent der Staatsdiener privat versichert, so die Stiftung.

Nach einer aktuellen Statistik gaben Bund, Länder und Kommunen für die ca. 3,1 Millionen privatversicherter Beamten und Pensionäre im Jahr 2014 knapp 12 Milliarden Euro für Beihilfeleistungen aus.

Der Studie zufolge würden sich diese jährlichen Ausgaben bis zum Jahr 2030 auf geschätzte 20,2 Milliarden Euro fast verdoppeln. Unterlägen Beamte wie Arbeitnehmer der gesetzlichen Krankenversicherungspflicht, addiere sich das Einsparpotential bis 2030 auf 60 Milliarden Euro. Doch weil die Studie viele Fragen ausklammert, gibt es daran viel Kritik. So werden die sich daraus ergebenden Folgelasten verschwiegen.

Beamte fallen nicht unter die Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung wie Arbeitnehmer, die unter der Beitragsbemessungsgrenze liegen. Sie sind durch das Krankenversicherungs-Weiterentwicklungsgesetz verpflichtet, im Wege der Eigenvorsorge das Risiko von Krankheiten und Pflegebedürftigkeit für sich und Familie abzusichern.

Sie müssen sich sowie ihre beihilfeberechtigten Familienangehörigen – soweit sie nicht gesetzlich versichert sind – bei einem privaten Krankenversicherungsunternehmen in dem Umfang versichern, in dem sie nicht über die Beihilfe abgesichert sind (sogen. Restkostenversicherung). Dieser Versicherungspflicht unterliegen auch die beamtenrechtlichen Versorgungsempfänger.

Mit der Einführung einer allgemeinen Versicherungspflicht müssten zwei Drittel der bislang ca. 3,1 Millionen privatversicherter Beamten und Pensionäre in eine gesetzliche Krankenversicherung überführt werden, weil sie unter der Beitragsbemessungsgrenze von derzeit monatlich 4.425,00 Euro (Brutto) liegen. Weitere 20 Prozent würden darüber hinaus finanziell von einem Wechsel profitieren und freiwillig zu einer gesetzlichen Kasse gehen.

Der monatliche Beitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung beträgt ab dem 01.01.2017 einschließlich eines Zuschlages 15,2 Prozent. Anteilmäßig für den Arbeitgeber 7,3 Prozent und 7,9 Prozent für den Arbeitnehmer.

Die Beitragshöhe wird prozentual vom sozialversicherungspflichtigen Bruttolohn ermittelt, weshalb die Höhe des Beitrages individuell verschieden ist.
Ein Beispiel:
Bruttomonatsverdienst: 2.500,00 Euro
Höhe des Gesamtbeitrages: 380,00 Euro
Arbeitgeberbeitrag: 182,50 Euro
Arbeitnehmerbeitrag: 197,50 Euro

Der Dienstherr als „Arbeitgeber“ müsste somit für jeden Beamten monatlich 182,50 Euro, im Jahr also 2.190,00 Euro entrichten. Und das für ca. zwei Millionen Beamte unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze, wobei die Summe durch die unterschiedliche Höhe des Bruttoeinkommens variabel ist.

Ein Drittel der Beamten, die nicht der Versicherungspflicht unterliegen, könnten sich weiterhin privat versichern und würden den Besitzstand der Beihilfe behalten. Es bedarf keiner großen Rechenkünste, um festzustellen, dass der Arbeitgeberanteil des Dienstherrn zur gesetzlichen Krankenversicherung um viele Milliarden höher sein wird, als die Beihilfekosten.

Einige Modelle der Bürgerversicherung wollen das Prinzip auch auf die gesetzliche Rentenversicherung ausweiten und damit auch die berufsständigen Altersversorgungswerke abschaffen. Sollten die Beamten auch in die gesetzliche Rentenversicherung überführt werden, käme eine weitere Belastung der öffentlichen Haushalte hinzu, da u.U. eine Rentennachversicherung zum Tragen käme, wobei die Besitzstandsregelung auch hier zu beachten wäre.

Der dbb beamtenbund und tarifunion wies den Vorstoß der Bertelsmann-Stiftung zurück und lehnt auch die von verschiedenen politischen Parteien wieder ins Gespräch gebrachte sogenannte einheitliche Bürgerversicherung entschieden ab.

„Wir werden jeden Versuch entgegentreten, Versorgung und Rente, Beihilfe, private und gesetzliche Krankenversicherung in einen Topf zu werfen,“ so der dbb-Bundesvorsitzende Ulrich Silberbach. „Wer das bewährte eigenständige und verfassungsrechtlich verankerte Sicherungssystem der Beamten nachhaltig verschlechtern oder gar gänzlich auflösen will, überschreitet eine rote Linie. Wir können die Funktionsfähigkeit unseres Staatswesens, deren Rückgrat nun einmal die Beamten mit ihren besonderen und entsprechend alimentierten Pflicht- und Treueverhältnis sind, nicht auf den Altar einer vermeintlichen sozialen Gerechtigkeit opfern.“ Die Erhebung der Bertelsmann-Stiftung bezeichnet der dbb-Vorsitzende als „unseriöse Zahlenspiele.“

Auch der Verband der Privaten Krankenversicherungen kritisiert die Basis der Studie. Der Direktor des Verbandes, Volker Laienbach, verwies darauf, dass die Stiftung auch nach eigenen Angaben die verfassungsrechtlichen Fundamente des geforderten Umbaus gar nicht geprüft habe. „Eine solche Studie ist auf Sand gebaut und kann schon im Ansatz nicht ernst genommen werden, da sie wesentliche Kostenfaktoren ausblende,“ so Volker Laienbach weiter.

Die Studie beziffert zwar die vermeintlichen Einsparungen der Staatshaushalte bis 2030 durch die Verlagerung der Kosten für die Versorgung der Beamten auf die gesetzliche Krankenversicherung. Sie verschweigt aber die Auswirkungen auf die gesetzlich Versicherten im selben Zeitraum.
Dabei ist absehbar, dass die gesetzlich Versicherten durch steigende Beitragssätze mittel- und langfristig wesentlich stärker belastet würden. Beamte sind im Durchschnitt etwas älter als die Erwerbstätigen insgesamt. Deshalb würden sie als Gruppe in der gesetzlichen Krankenversicherung tendenziell höhere Kosten verursachen.

In einzelnen politische Parteien gibt es laut des Verbandes der Privaten Krankenversicherungen Stimmen, die eine Abschaffung der PKV verlangen und das obwohl das deutsche Gesundheitswesen hervorragend dasteht und sozial gerecht ist. Denn unabhängig vom Einkommen haben alle Bürger freie Arztwahl und profitieren vom medizinischen Fortschritt. Im Notfall wird jeder sofort versorgt, egal wie er versichert ist. Wir werden in der Welt um unser Gesundheitssystem beneidet. Die Deutschen sind damit heute so zufrieden, wie seit Jahrzehnten nicht.
Ein Systembruch wie angestrebt, würde zu einer Einheitskasse führen und nur Verlierer erzeugen.
Dort, wo die Krankenversicherung als Einheitssystem organisiert ist, werden medizinische Leistungen viel stärker rationiert. Diese Länder sehen meist nur ein Grundversorgung auf niedrigem Niveau vor. Nur wer den Arzt direkt bezahlen oder sich eine Zusatzversicherung leisten kann, hat dort Zugang zur Spitzenmedizin - außerhalb der Einheitsversorgung. Das ist dann wirkliche Zwei-Klassen-Medizin.

In diesem Zusammenhang wird darauf hingewiesen, dass die Privaten Krankenversicherungen jährlich einen sehr hohen Betrag an die gesetzliche Krankenversicherung entrichten und das mit Beitragsgeldern der Versicherten.

Kritik übte auch die Bundesärztekammer. Ihr Präsident, Frank Ulrich Montgomery. Er äußerte sich zur Studie wie folgt: „Bei genauer Betrachtung wird deutlich, dass sich die Autoren hier ein Szenario zurecht gezimmert haben, das jeglichem rechtlichen, politischen und gesellschaftlichen Realitätssinn entbehrt. Die Autoren achteten genau darauf, den Begriff Bürgerversicherung zu vermeiden. Ihr Modell ist aber nichts anderes als der Totengräber des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland und Wegbereiter der Einheitskasse.

Der Wettbewerb zwischen Privater Krankenversicherung und gesetzlicher Krankenversicherung garantiert ein hohes Versorgungsniveau. Dabei erfüllt die PKV oft die Rolle eines Türöffners für Innovationen, weil sie neue Therapien und Geräte frühzeitig erstattet. Das treibt dann auch die GKV an, diese neuen Angebote aufzugreifen. So schützt der Systemwettbewerb vor medizinischen Stillstand und kommt damit allen Patienten zugute.“

Den Prognosen entsprechend müssten bei Auflösung des dualen Krankenversicherungssystems tausende Arztpraxen schließen. Jeder sechste Arzt fürchtet laut einer EMNID-Umfrage, dass er seine Praxis ohne Privatversicherte nicht mehr weiterführen könnte. Denn: Im Falle einer Bürgerversicherung würden die niedergelassenen Ärzte jedes Jahr mehr als 6 Milliarden Euro einbüßen, das Gesundheitssystem insgesamt sogar mehr als 12 Milliarden. Damit würde jede Arztpraxis im Schnitt über 50.000 Euro pro Jahr verlieren. Auch Hebammen, Physiotherapeuten und Zahnärzte wären in ihrer Existenz gefährdet.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) sprach sich für eine Versicherungspflicht der Beamten aus. Er begründete diese Aussage mit Schutz für die Beamten vor explodierenden Prämienkosten der Privaten Krankenversicherungen als auch insgesamt für eine Entlastung der öffentlichen Haushalte.

Die Bürgerversicherung löst kein Problem, das Reformmodell würde die Zwei-Klassen-Medizin in Deutschland noch verstärken, so die Meinung eines bekannten Gesundheitsökonoms. Der Experte hält wenig von einer möglichen Reform der Krankenversicherung. Das aktuelle System sei nicht so schlecht, meint er. Nichts wäre schlechter, wenn die Bürgerversicherung das halten würde, was sie verspricht: Ein Ende der Zwei-Klassen-Medizin und eine bessere medizinische Versorgung. Aber das tut sie nicht.

Die Bürgerversicherung löst keines der Probleme, die die Krankenversicherung bald lösen muss. Im Gegenteil: Sie würde ein System, mit dem die Menschen relativ zufrieden sind, zerstören. Am Ende könnten wir eine schlechtere Versorgung haben, als vorher. Es war bisher nicht zu lesen, wie der Übergang zur Bürgerversicherung ablaufen soll. Wenn den Privaten Krankenversicherung der Nachwuchs abgeschnitten wird, was passiert dann mit diesen Versicherungen, den schon lange dort Versicherten und ihren Altersrückstellungen?
Bei der Bürgerversicherung ist viel Ideologie im Spiel. Der Begriff klingt ja erst mal toll. Wer würde da nicht Mitglied sein?
Aber eine Bürgerversicherung würde die Zwei-Klassen-Medizin nur verstärken. Denn wer es sich leisten kann, würde sich dann eben teure Zusatzversicherungen und damit mehr medizinische Leistungen kaufen. Wer es aber nicht kann, bliebe in der zweiten Klasse hängen.

Die Bürgerversicherung ist vor 15 Jahren entwickelt worden, als die Union die Gesundheitsprämie wollte. In der großen Koalition ist dann keines der Konzepte verwirklicht worden, es kam der Gesundheitsfonds mit Risikostrukturausgleich.

Wenn ein Konzept schon so lange auf dem Tisch liegt und nie verwirklicht wurde, muss man auch mal kritisch fragen, warum das so ist. Deutschland hat den einzigen Krankenversicherungsmarkt, wo man sich entweder gesetzlich oder privat voll versichern kann. Es gibt Länder, in denen das Einheitssystem eingeführt ist, aber nicht nach dem bei uns diskutierten Modell. Die medizinischen Leistungen sind entsprechend.
Helmut Tempel
Bildquelle Beitragsbild: Thorben Wengert / Pixelio.de